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STEFAN MART - HOMMAGE AN EINEN VERSCHOLLENEN KÜNSTLERStefan Mart heißt (oder nannte sich) der Erzähler und Illustrator des Lese- und Bilderbuches Märchen der Völker, erschienen im Jahre 1933 in Hamburg, herausgegeben vom "Cigarettenbilderdienst Hamburg-Bahrenfeld". In den sechs Jahren, die es auf dem Programm dieses Verlages stand, hat es sich die Liebe von ungezählten Kindern und Erwachsenen erworben. Vor allem bewirkten das die einhundertfünzig Farbillustrationen, klein im Format, aber groß im Ausdruck, jedes ein Mikrokosmos randvoll von Geschehnissen, jedes zugleich dem Auge erfreulich wie ein gelungenes Schmuckstück; alle deutlich, ja karikaturistisch-überdeutlich in ihrer feinen Zeichnung, alle aber auch von der leuchtenden, ja flammenden Farbigkeit moderner Malerei. Diese Bilder weckten die Phantasie und das Gefühl, reizten zum Lachen und zum Weinen, lehrten das Fürchten, oder doch das Gruseln. Aber vor allem machten sie Staunen - und genau das tun sie noch heute. Märchen der Völker war kein fertiges Buch aus dem Buchladen, sondern eine Serie von Vierfarbendrucken, etwas größer als Spielkarten, die man vom Hamburger Verlag gegen Einsendung von Gutscheinen zugeschickt bekam. Diese Bilderschecks lagen Zigarettenpäckchen aus dem Hause Reemtsma bei. Um die Bilder im Zusammenhang zu verstehen, musste man beim Tabakhändler das zugehörige Sammelalbum erwerben, das den Text der Märchen und viele zusätzliche schwarz-weiße Illustrationen enthielt. Bilder und Alben sind heute begehrte Sammlerstücke, wenn auch keine Raritäten; denn es wurden Hunderttausende von Exemplaren der Serie und des Albums gedruckt und in ganz Deutschland verteilt. Viele Menschen der älteren Generation erinnern sich an das Märchenbuch - kein Wunder, seine Bilder haben sich ihnen förmlich eingebrannt: "Aber ja!" ruft die weißhaarige Dame, der weißhaarige Herr nach einer freudigen Schrecksekunde: "das kenn ich wohl, Sindbad der Seefahrer! Wie hieß das Märchenbuch gleich?" Selten erinnert sich jemand an den Titel Märchen der Völker und nur ganz ausnahmsweise an den Namen Stefan Mart. Auch Kunsthändler und Kunsthistoriker wälzen ihre Nachschlagewerke vergeblich, nirgendwo ist dieser Name aufgezeichet, nie scheint er den Weg in die Enzyklopädien und Handbücher gefunden zu haben, auch nicht in die Kataloge von Bibliotheken und Museen. Allenfalls im Internet erzielt man einige wenige Treffer, überwiegend in den Angebotslisten von Antiquariaten. Doch nicht einmal die Antiquare und Sammler können Auskunft geben, wer Stefan Mart war, wann er geboren wurde, wer seine Eltern waren, wo er seine Ausbildung erhielt, lebte und arbeitete... Vielleicht ist dieser Zustand eine hohe Ehre für einen Künstler: dass seine Bilder und Geschichten im Gedächtnis so vieler Menschen gespeichert sind, dort weiterleben, während er selbst im Dunkel verschwunden ist. Mancher anerkannte und zu Lebzeiten schon berühmte Künstler mag sich vergeblich wünschen, es einmal so weit zu bringen. Trotzdem - ein befriedigender und haltbarer Zustand ist es nicht, am wenigsten für die Kunsthistorie. Denn dieser Buchkünstler von außergewöhnlichem Talent lebte nicht fernen Zeiten, sondern am Anfang des 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit großer Umwälzungen in der Kunst und leidenschaftlicher öffentlicher Debatten über die moderne Grafik und Malerei. Wie konnte es da geschehen, dass die Kunstkritik ein Werk, das so viele Elemente des modernen Bilderstils aufwies, vollständig übersah? Zu den Gründen werden in der Einleitung Überlegungen angestellt: der Umstand, dass es als als Werbegeschenk eines Zigarettenhersteller veröffentlicht wurde, mag dazu beigetragen haben, mehr noch aber die politischen Zeitverhältnisse. Denn im Erscheinungsjahr von Märchen der Völker, 1933, wurde in Deutschland eine Diktatur errichtet, die alles, was nach Wertschätzung anderer Kulturen aussah, verfolgte. 1939 nahm der Bilderdienst den Band aus dem Verlagsprogramm und ersetzte ihn durch Deutsche Märchen, ein Werk, das von der Qualität seiner Bilder her gut neben Märchen der Völker hätte bestehen können. Aber der modernistische Stil Stefan Marts war der Diktatur ein Dorn im Auge, mehr noch seine weltoffene Haltung zu einer Zeit, als die Kriegsvorbereitungen in vollem Gange waren und alles, was nach Völkerverständigung aussah, von der Bildfläche verschwinden musste. Nach dem Ende von Diktatur und Krieg tauchte das Werk für kurze Zeit noch einmal aus der Versenkung auf. Restbestände der Bilderserie und der Sammelalben wurden bis 1947 vertrieben, unklar auf welchen Wegen, denn die Geschäftsräume des Hamburger Bilderdienstes waren durch Bomben restlos zerstört. Mit ihnen sind auch alle Dokumente untergegangen, die Auskunft über die Person des Verfassers hätten geben können. Wer also war Stefan Mart? - Es gibt darauf einstweilen nur die denkbar knappste Anwort: Der Meister von Märchen der Völker. Weder wissen wir, ob dieser unter anderem Namen weitere Bücher verfasste und illustrierte, oder sonst Werke schuf, noch können wir völlig ausschließen, dass die Märchenerzählungen und die Bilder verschiedene Urheber hatten. Was wir wissen ist jedoch, dass es sich beim Illustrator des Märchenbuches um einen Zeichner und Maler von hohem Rang handelte, um ein graphisches Genie auf ganz eigenen Wegen. Offensichtlich hat er eine erstklassige Ausbildung genossen, doch macht er von allem, was in der Kunst erlernbar ist, einen so freien und originellen Gebrauch, dass der Eindruck entsteht, es wäre ihm mühelos zugeflogen. Der Kern seiner Begabung liegt in der Karikatur, in der Wiedergabe von Mienen und Gebärden. Er ist ein Schauspieler mit Pinsel und Zeichenstift. Stilistisch ist er vielseitig, ein Parodist, in der europäischen Bilderwelt ebenso gut bewandert wie in den verschiedenen Genres der Malerei: Landschaft, Stilleben, Anatomie, Kostüm, Architektur, Marine und vor allem Tiermalerei. So weiß er den Wert seiner Kenntnisse und Fertigkeiten zu schätzen, läßt sich von der Moderne weder fortreissen, noch verharrt er in der Tradition. Vielmehr gelingt ihm das Kunststück, beide einander heftig zuwiderlaufenden Ströme in ein Bett zu zwingen. Das Grelle, Abstraktive, Verrückte der Moderne ist in seiner Bildersprache, zugleich bleibt sie den Prinzipien des Naturalismus treu, bildet ab, ahmt nach, und zwar mit wundersam tiefer Einfühlung in Mimik und Gebärden von Mensch und Tier. Das Ergebnis drängt über das Medium Buch hinaus, möchte überhaupt das stehende Bild hinter sich lassen. Der Künstler weiß das genau und strebt entsprechend nach neuen Ufern, hin zum bewegten Bild, zum Kino, speziell zur Zeichentrick-Animation: Stefan Mart ist ein Pionier des modernen Cartoon! Zu hoffen und zu wünschen, dass es sich bei seiner Vergessenheit um eine vorübergehende handelt, um eine Durchgangsstation zur Anerkennung, wie öfters in der Kunstgeschichte. Dazu sollen diese Seiten beitragen. Sie lassen zunächst sein Märchenbuch im HTML-Format wiedererstehen. Hommage an einen verschollenen Künstler: Wer weiß, vielleicht war der Meister von Märchen der Völker die längste Zeit verschollen und steht vor seiner Wiederentdeckung, mit allem was dazugehört, Anerkennung als Künstler, Lösung des Rätsels um seine Person, Lichtung des Dunkels, in dem sich seine Lebensspur verliert. Dezember 2004 - Rainer Würgau |