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Don Quixote VIII. Gespenster um Mitternacht

Sancho Pansas Schnappsack war also abhanden gekommen. Dem fahrenden Helden und seinem Knappen wütete der Hunger in den Gebeinen. - "Ich Unglücklicher!" murrte der dicke Sancho, "bei all den Prügeln werde ich mich jetzt noch von den Wurzeln und Kräutern des Feldes ernähren müssen." - "Was hat das zu bedeuten im Vergleich zu meinen. mörderischen Schmerzen, die mir meine zerquetschte Kinnlade und meine ausgebrochenen Zähne verursachen", erwiderte ihm ungehalten Don Quixote. Sancho Pansa steckte seinem Herrn nun einen Finger in den Mund, fühlte bedächtig darin umher und fragte: "Wieviel Backenzähne habt Ihr überhaupt noch gehabt, gestrenger Herrl" - "Vier, außer dem Weisheitszahn." - "Herr," meinte Sancho Pansa, "überlegt wohl, was Ihr sagt!" - "Viere sind's gewesen, wo nicht fünf?" beteuerte Don Quixote von neuem. - Bild 89. Die Gespensterprozession "Na, ich zähle nur noch zwei und einen halben Zahn; sonst ist alles glatt wegrasiert", knurrte der Schildknappe und zeigte seine eigenen Zähne. - "Ihr seid glücklich dran, Herr, Eure Mühle hat keine Mahlsteine mehr; aber seht meine Mühlensteine, die schreien nach Nahrung!" - "Ich schwöre Dir, Sancho, bei meinen fehlenden Zähnen, daß ich Dir, bevor Mitternacht angeht, eine lukullische Mahlzeit verschaffe!" Beide schwangen sich auf ihre Tiere und trabten in neuer Hoffnung weiter. Die Nacht war pechfinster geworden. Plötzlich sahen sie vor sich in der Finsternis eine große Menge von Lichtern schimmern, die ihnen wie Sterne entgegenkamen. Sancho Pansa wurde blaß, als er sie erblickte. Der stolze Ritter aber ermannte sich, legte seine Lanze ein, stürmte den unheimlichen Lichtern entgegen und schrie: "Ich kämpfe auch gegen Geister und Gespenster!" Es waren eine Menge Gestalten in weißen schleppenden Gewändern, trugen Fackeln in den Händen und schienen totenhaft auszusehen. Hinter ihnen trabte ein hochbepackter Esel. Mit unverständlichen Worten und dumpfen Stimmen flohen die Gestalten, als der geharnischte Held wütend in sie hineinritt. Nur eine weiße Gestalt war auf dem Boden liegengeblieben. Bild 90. Der Ritter von der traurigen GestaltDon Quixote ergriff eine von den weggeworfenen Fackeln und legte dem Gespenst die Spitze seiner Lanze auf die Brust. - "Ihr seid augenblicklich des Todes, wenn Ihr mir nicht sagt, was für eine Bewandtnis Eurem gespenstischen Aufzug zugrunde liegt?" - "O alleredelster und gnädigster Herr", antwortete keuchend das Gespenst, "wir gehören zu der Geheimsekte Salus et Quietas und wollten zu unserem Mitternachtsschmaus, den wir jedes Jahr einmal im Freien auf dem Berge Gumarilla abhalten." - "Hierher, Sancho Pansa, hilf diesem entlarvten Gespenst auf die Beine!" Don Quixote schaute sich nach seinem Knappen um. Der hatte den hochbepackten Esel requiriert, der mit den besten Leckereien aus der gesamten Fauna und Flora beladen war. Nun hielt sich der Schildknappe den Bauch und lachte aus vollem Halse. - "Hatte ich Dir nicht ein lukullisches Mahl versprochen? mein Freund, jetzt hast Du gut lachen!" - "Das ist es gewiß nicht, mein edler Herr, warum ich lache. Seht, wie ich Euch so beim Lichte der Fackel eine Weile betrachtete, da fiel mir auf, daß Ihr wirklich die traurigste und jämmerlichste Gestalt wäret, die ich mein Lebtag noch gesehen habe!" Da setzte Don Quixote sich zerknirscht nieder und sprach mit wehmütigem Kopfschütteln vor sich hin: "So bin ich also Don Quixote von la Mancha, der Ritter von der traurigen Gestalt."


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