Eben noch stand die Sonne blitzeblank am Himmel. Doch gleich darauf, als unser Poet den letzten Höhengrat hinabstieg, lag unten in der Ebene schon alles in Dämmerung gehüllt. Dunkle Ahnungen von kommendem Unheil trieben ihn vorwärts - seiner Marygold mußte Gefahr drohen. Im Traum hatte er den finsteren Mr. Jim gesehen, der nach Osten eilte, also in Richtung der Poststation Norfolk, desselben Ortes, in dem Marygold demnächst ihre Tanzkunst zu zeigen beabsichtigte. Bobby schaute nach allen Himmelsrichtungen; wie sollte er in dieser Wüstenei den richtigen Weg nach Norfolk finden? Er wollte sich schon auf seinen guten Stern verlassen und darauflosmarschieren, als er im Schummerlicht ein verhutzeltes Männchen erblickte, das inmitten eines Steingerölls saß und scheinbar trübsinnig den Kopf stützte. - "Holla! wo geht der Weg nach Norfolk?" rief Bobby den Griesgram an. - "Über die Talsenkung hinaus!" antwortete das Männchen mit Grabesstimme, ohne den Kopf zu heben. Bobby erschrak; hinter den knochigen Fingern sah er einen lauernden Blick, in dem es teuflisch aufleuchtete. Das waren ja Mr. Jims Augen; auch die Nase und das lange Kinn waren auffallend ähnlich. Schnell wandte sich Bobby ab; doch als er sich bald darauf umsah, war der unheimliche Kerl spurlos verschwunden. Aha! dachte Bobby Box: ein Spuk - der Teufel ist am Werke! Er machte, daß er weiter kam.
In der Talsenkung entdeckte er ein verborgen liegendes Haus, das recht
sonderbar ausschaute und trotz sorgsam verriegelter Fenster und
Türen alle Merkmale des Zerfalls und der Verkommenheit in sich
trug. Wer mochte hier hausen oder gehaust haben? Bobby wollte weiter,
ihm gruselte; aber eine unsichtbare Macht zog ihn die Stufen zur
Eingangstür hinauf.
Schon klopfte er. Nach kurzer Zeit klirrte ein Riegel, ein Spalt tat
sich auf und die Tür stand plötzlich sperrangelweit offen,
ohne daß jemand sichtbar wurde. - "Gespensterbude !" entfuhr es
Bobby, doch grüßte er auf alle Fälle. "Good evening!" -
Er nahm seinen Hut ab und schwenkte ihn in die Leere hinein, um sich zu
überzeugen, ob wirklich niemand dort im Dunkeln verborgen stand.
Wir wollen es dem Leser verraten: Mr. Jim war es, der heimlich die
Tür geöffnet, um Bobby hereinzulocken und sich dann
schleunigst wieder in eine Nische neben der Tür gedrückt
hatte. Die giftgetränkte Spitze des Indianerpfeils aber, die vorn
aus dem Hute des Dichters herausschaute, hatte den heimtückischen
Jim in seinem Versteck erreicht, als Bobby seinen Melonenhut aufs
Geratewohl ins Haus schwenkte. Die wohlbekannte Habichtsnase bekam
einen tiefen Ritzer.
Bobby selbst merkte nichts davon; doch als er immer wieder in die dunkle Türöffnung starrte, kam ihm plötzlich der Gedanke: Marygold ist hier in Gefahr! - Nun zwang er sich hineinzugehen. Psssst! Kaum hatte er einige vorsichtige Schritte gemacht, schlug auch schon die Tür hinter ihm zu. Ein donnerähnlicher Paukenwirbel folgte, und mit Quieken und Rumoren, das wie Hohngelächter klang, empfing ihn eine Schar Ratten und scheußliches Nachtgetier, das ihn im Kreise wild umtanzte. Bobby sprang beiseite; da wankte auch schon der Boden unter seinen Füßen. Er war auf eine Falltür geraten, die sich krachend geöffnet hatte und ihn in einer Versenkung verschwinden ließ. Schwer fiel er in einen öden und leeren Keller, in dem Moderluft und Grabesduft herrschte. Kaum war er nach dem Sturze zur Besinnung gekommen, als er auch schon von unsichtbaren Händen mit harten Stricken an einen Balken gebunden wurde. Jetzt ward es Bobby klar, daß er dem teuflischen Mr. Jim in die Falle gegangen war. Was nun? Wer sollte Marygold Hilfe bringen? Er selbst stand hier gebunden - machtlos. -
Der Staub, der in dichten Wolken aufgewirbelt war, krollte sich zur
Erde. Nun aber staunte Bobby doch: das Wort, welches er im Begriffe war
auszurufen, erstarb auf seinen Lippen. - An dem gegenüberliegenden
Balken, geknebelt und gefesselt, stand - Marygold. Deutlich sah er sie
in gespenstigem Lichte, das um sie herum geisterte. - "Servus,
Marygold!!! - O Marygold, hier müssen wir uns wiedersehn?" Aber
Marygold blieb stumm wie ein Fisch. - Zwei Menschen standen sich hier
in diesem weltvergessenen Kellergewölbe gegenüber,
regungslos, nur durch eine kurze Spanne getrennt. Doch diese Spanne
erschien wie eine Unermeßlichkeit, wie unerreichbare Ferne. - Ein
dritter Mensch gleich dem Dämon der Finsternis mit unförmlich
geschwollener Nase und wirren Augen schlich heran. "Him - hem - ham -
hum!" Geldgierig griff dieser Dritte in die Dollartasche, die vor den
beiden Gefesselten lag. - Ein gräßlicher Schrei der
Enttäuschung und des Schmerzes zerriß die qualvolle Stille.
Statt in die Geldscheine hatte Mr. Jim in den Rachen der wut-zischenden
Klapperschlange gegriffen. Er versuchte sie abzuschütteln; aber
die Giftzähne des Reptils saßen ihm fest in der Hand. Nun
sah Bobby Box, dessen Verwunderung kein Ende nahm, den teuflischen Jim
mit der noch freien Hand an einem Gegenstand hantieren, der - seine
Verwunderung wandelte sich in Entsetzen - wie eine mit Sprengstoff
gefüllte Bombe aussah. Eine weiße Schnur schaute aus einer
kleinen Offnung heraus. "Der Schuft legt Feuer an die Lunte!" schrie
Bobby in höchster Verzweiflung zu Marygold hinüber.
Marygold aber sah nichts; vor ihren Augen lag eine breite Binde. Mr.
Jim hatte sich nach dieser ruchlosen Tat, mit seiner geschwollenen Nase
und der Klapperschlange in seinen noch von Geldgier gekrampften Fingern
rückwärts durch eine Wandtür gedrückt und war
verschwunden. Hier also, durch die bisher unsichtbar gewesene Tür,
führte ein unterirdischer Gang ins Freie. - Die Lunte schmorte.
Der arme Bobby preßte seine Augenlider fest zusammen, um Marygold
nicht zu sehen. - "Verlorenes Glück!" seufzte er, und vor seinem
geistigen Auge sah er all seine schönen Träume versinken: ein
trautes Heim, spielende Kinder und eine liebenswerte und schöne
Lebensgefährtin! -
"Das wäre das richtige happyend gewesen!" brachte der elegische
Dichter heraus und bedauerte jetzt, diesen verschwindenden
Glückstraum nicht in Versen besingen zu können. Er wurde aus
diesen Gedanken herausgerissen; seine Nase verzog sich, es roch nach
verbrannter Baumwolle. Immer weiter schmorte die Lunte. Der fressende
Funke näherte sich mit rasender Geschwindigkeit der Bombe. Rettung
erschien aussichtslos. Bobby machte nochmal eine gewaltige Anstrengung,
um sich aus den Stricken zu befreien. - Doch was war das?! Seine Hand
hatte den Griff eines Messers gefaßt, das in seinem
Rockschoß saß. - "Hallo - ein Indianermesser!" Ein Schnitt
- die bösen Stricke flogen! - "O Herz, schweig still! Das Gute
muß doch schließlich siegen!" - Schnell war auch Marygold
befreit. - "Hallo - hier im Taschenbügel sitzt ein Indianerbeil!"
rief jetzt Marygold. Beide stürzten auf die Tür des
unterirdischen Ganges. - Ein Klang! Ein Knacks! Der
Türverschluß zersplitterte. - "Schnell, schnell hindurch! -
Wer weiß, wer weiß?!" Beide riefen es in fiebernder Hast
und stürzten sich auch schon in den aufwärtsstrebenden
Schacht. Hinter ihnen auf dem Boden glomm und sprühte es
verdächtig. - Zwischen dem Steingeröll, da, wo das
verhutzelte Männchen gesessen hatte, gelangten Bobby und Marygold
in die Freiheit. Schwarz wie die Schornsteinfeger lugten sie hinter
einer Steinplatte hervor und harrten nun in freudiger Erregung der
Dinge, die da kommen sollten.- Plomparadomm! - Kopf weg! - Den Beiden
dröhnte das Trommelfell. Wie aus einem Böller geschossen,
ging das Haus in die Luft.
Da geht sie hin die gute Stube!
Es bleibt nur noch die Kellergrube.
Die Geisterbude ist zerstoben,
Die Trümmer regnen noch von oben!
Als Bobby diese Verse in das Getöse hineingeschrieen hatte, schauten
sich die beiden Geretteten an und lachten aus vollem Halse. Sie waren
so schwarz, daß sie sich kaum wieder erkannten. - Plötzlich
wurde Bobby ernst:
- "O weh! meine schönen Dollarscheine sind mit in die Luft
geflogen!"
- "Nein!" lächelte Marygold.
Und jetzt kam ein großer Augenblick; das Mädchen zählte
dem erstaunten Bobby aus ihrem Pompadour die 1000 Dollar einzeln in
seinen Melonenhut. Darauf ließ sie Bobby mit offenem Munde stehen
und ging ohne weitere Erklärung daran, sich zu säubern und
zurechtzumachen.
Es war einmal ein Mägdelein
Mit Namen "Marygold", wie fein!
Die wußte sich mit wenig Sachen
Gar hübsch und nett zurechtzumachen.
Im Täschchen trug sie allerhand,
Ein Spiegel, der war schnell zur Hand,
Und für das Blondhaar, wunderbar,
Der nöt'ge Kamm war immer da.
Die Lippen - es hatt' keine Not
Sie waren von Natur aus rot;
Hier brauchte nichts gekünstelt sein.
Es war einmal ein Mägdelein...!
Im Osten, aus dunklen Wolkentoren, brachen die ersten Sonnenstrahlen. Wie eine schaumgeborene Venus stand Marygold im ersten Morgenlicht -; Bobby gebärdete sich wie unsinnig:
O Mary - Schönheitskönigin
Nimm diese 1000 Dollar hin!
Doch Marygold wies ihn ab und meinte lächelnd: "Bobby, mein liebes
kleines Kerlchen, behalt' Dein Geld; ich brauche kein's!" - Da! -
über Busch und Steppe klang es in lautem Chor: "Marygold! -
Marygold!..." Die Post aus Norfolk war da und ihr Losungswort
hieß: Black Bell! Die starken, breiten Männergestalten, die
- bei Gott - Respekt einflößten und lachend und rufend aus
dem Wagen herauswinkten, verdrehten dem schönen Mädchen den
Kopf. Wieder tönte es in lautem Chor: "Come on, Marygold, come on
nach Black Bell und tanze!" - "'Bleib! Mary!" rief der kleine Bobby
dazwischen, "fahr nicht mit nach diesem Sündenhort!"
Aber der Lockruf "Black Bell", wo es keinen "Teufel Jim" mehr gab, zog
die schöne Tänzerin mächtig an. Die Kutsche war nahe
herangerollt, die Peitsche knallte - Bobby war es, als ginge der ganze
Postwagen mit Roß und Rädern über ihn hinweg; die bunte
Welt drehte sich um ihn herum, Männer lachten, Pistolen knallten,
Musik erscholl von allen Seiten, Marygold tanzte und jubilierte. - Als
alles um ihn herum wieder still geworden, als alle Stimmen verstummt
waren, fuhr die Postkutsche schon weit hinter der Talsenkung. In der
Ferne noch hallten die Peitschenhiebe durch die Ebene. Bobby schaute
sich um - Marygold war verschwunden! - Recht höhnisch kam ein Wind
daher und fuhr in seine Dollarscheine, die er noch immer in seinem Hut
von sich gestreckt hielt. Jetzt Kopf hoch, Bobby! Jetzt heißt es
philosophisch denken:
Es bleibt mir -
da sie nicht gewollt
Im Geist die bess're Marygold.
Mit der gibt's keinen Ehezwist,
Vielleicht es so viel schöner ist.
Die Dollarscheine? -
Laß sie fliegen!
Der, der sie braucht,
Wird sie schon kriegen!
Mich kann das Geld
Nicht glücklich machen.
Ich werd' auch ohne
Wieder lachen! -