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Sindbad der Seefahrer - Dritte Reise

Nach der Erzählung der zweiten Reise folgte eine kurze und nachdenkliche Pause; dann wandte sich der reiche Sindbad an den armen Lastträger Sindbad mit den Worten: "Du siehst, mein Freund, daß man nur unter Einsatz seines Lebens, wie du eben vernommen hast, zu Reichtümern gelangen kann. Als Taglöhner kommt man nicht in die Gefahr, dem Tod ins Auge zu schauen; - so merke dir denn, daß so, wie der Einsatz, auch der Gewinn ist!" Sindbad der Seefahrer winkte einem seiner Sklaven und ließ dem Lastträger hundert Goldmithkal als Geschenk aushändigen. - Noch immer im Banne der abenteuerlichen Erzählung, saß die Gesellschaft Sindbad des Seefahrers vergnügt und fröhlich da, als dieser auch schon wieder sich vernehmen ließ und mit der Erzählung seiner dritten Reise begann:

"Wisset, meine edlen Herren, daß die Geschichte mit dem Vogel Roch hiermit noch nicht ihr Ende gefunden hatte. Nach all den Gefahren, Elend und Drangsalen, die ich auszustehen gehabt hatte, gab der Seeteufel, der scheinbar nicht von mir weichen wollte, meiner armen gequälten Seele ein, dem Kreis meiner Freunde in Bagdad von dem wunderlichen Vogel Roch und seinem Ei zu erzählen. Man begegnete meinen Worten mit Mißtrauen, was meinen Stolz und meine Eitelkeit aufs tiefste verletzte. Ich rüstete ein großes, hohes und neu aufgetakeltes Schiff, forderte die Zweifler auf, mir nach der Insel selbst zu folgen, um sie an Ort und Stelle von der Wahrheit meiner Worte zu überzeugen. Als wir an dem öden und wüsten Eiland anlangten, sahen wir schon von weitem die weithin leuchtende Kuppel, die das Ei des Vogels Roch war. Die Kaufleute, meine Freunde und Gäste, gingen an Land und waren, obwohl der Verwunderung voll, doch noch nicht überzeugt, daß es einen solch mächtigen Vogel gäbe, der ein so großes Ei legen könne, und glaubten vielmehr, dieser schimmernde und runde Gegenstand sei ein Wundergebilde der Natur. Sie gingen daher mit frevelnder Hand daran, die Schale des Eies mit großen Steinen zu bombardieren, bis sie zerbrach. -   Bild 11. Der Vogel Roch greift an"Um des Himmels willen, tut es nicht, damit nicht der Vogel Roch unser Schiff zertrümmert und uns vernichtet!" rief ich sie flehentlich an. Sie hörten jedoch nicht auf meine Worte und ließen nicht ab, ihre unsinnige Tat zu vollenden, als mit einem Male die Sonne verschwand, und der Tag sich verfinsterte. Sobald wir nun unsere Häupter erhoben hatten, um zu schauen, was zwischen uns und die Sonne gekommen wäre, sahen wir, daß es der Vogel Roch mit seinen mächtigen Schwingen war. Als das fliegende Ungeheuer sein Ei zerbrochen fand, stieß es einen entsetzlichen Schrei wider uns aus, der lauter als ein Donner erschallte. Alles flüchtete kopflos auf mein Schiff. Aber es war zu spät. Kaum waren wir so weit, die Segel zu reffen und umzulegen, als auch schon der Vogel über uns erschien, mit einem gewaltigen Felsstück in seinen Krallen. Er ließ den Felsenstein mit solcher Gewalt auf das Hinterteil unseres Schiffes fallen, daß wir mit den Planken unseres zertrümmerten Fahrzeuges in die Luft flogen; das Wasser ging dabei so hoch, daß wir den Meeresgrund zu sehen vermochten. Mühsam konnte ich mich, als Einziger an eine Schiffsplanke geklammert, retten.

Mein glücklicher Stern trieb mich nun an eine Insel, die mit ihren schimmernden Fruchtbäumen, den Blumen, strömenden Bächen und singenden Vögeln einem der Gärten Eden glich. Dabei ahnte ich jedoch nicht, welch neue Plage hier schon wieder auf mich wartete. Dicht vor mir sah ich ein Männchen mit langen grauen Haaren am Ufer eines Baches sitzen; seine Hautfarbe war grün, wie die unreife Frucht des Bananenbaumes. Er gab mir durch Zeichen zu verstehen, daß er gern über den Bach hinüber möchte. Da ich Mitleid mit dem Alten empfand, lud ich ihn auf meinen Rücken und wollte ihn hinübertragen.  Doch kaum saß er mir im Huckepack, als der Bösewicht seine Beine so fest um meinen Hals klammerte, daß mir der Atem ausging und ich bewußtlos zu werden befürchtete. Bild 12. Der grüne MeeresdämonImmer mehr schnürte er mir die Kehle zusammen. Mein einziger Gedanke war: Jetzt hat mich der Seeteufel überlistet und fest in seinen Klauen. Da stolperte ich auf einmal über eine große runde Frucht. Ich erkannte sogleich, daß es diejenige war, deren Saft eine berauschende Wirkung ausübt. Gerade in diesem Augenblick stürzte ich wie besinnungslos zu Boden; im Fallen ergriff ich diese Kürbisart und nahm einen kräftigen Schluck. Das grüne Untier in meinem Nacken, das mich zu Tode würgte, wurde sofort auch begierig und trank den ganzen Rest des Saftes aus. Alsbald fiel es hintenüber in einen tiefen Schlaf, und ich war erlöst. - Nicht lange nach dieser meiner wunderbaren Errettung landete ein Schiff an jener Insel, das mich aufnahm. Die Passagiere ließen sich meine Geschichte erzählen und wunderten sich sehr darüber. - "Der 'grüne Alte', der auf deinen Schultern ritt," sagten sie, "heißt der Scheich des Meeres, und du bist der einzige, der unter seine Schenkel kam und sich dennoch von ihm losmachen konnte."

Nach Wochen glücklicher Fahrt kamen wir an eine Stadt mit hohen Gebäuden, genannt die Affenstadt, weil es in jener Gegend so viele Affen gibt, daß sie sogar bis in die Stadt vordringen und ihren Bewohnern nachstellen. In dieser Affenstadt blühte nun ein schwungvoller Handel in Kokosnüssen.  Die Bewohner setzten sich auf eine absonderliche Art in den Besitz derselben. Bild 13. Eine KokosnussschlachtIndem sie nämlich mit Steinen nach den Gipfeln der Palmen warfen, auf denen die Affen sitzen, werden diese gereizt, so daß sie die Nüsse abpflücken und mit diesen nach den Menschen werfen, die ihre wertvolle Beute dann bloß einzusammeln brauchen. Da ich mittellos war, beteiligte ich mich ausgiebig an diesem Geschäft. Ich warf Tag und Nacht nach den Affen und hatte eine gewaltige Ernte, die ich für eine große Geldsumme verkaufte. Nun konnte ich alles kaufen, was mir gefiel und wonach ich Verlangen trug, und verbrachte so meine Zeit in der Affenstadt heiter und vergnügt. Das nächste Schiff, das am Strande Anker warf, benutzte ich, um nach Bagdad zurück zu kommen. Hier angelangt begrüßte ich meine Angehörigen und Freunde und berichtete ihnen, daß die Zweifler, die mir gefolgt waren, die Opfer ihres Mißtrauens und Unglaubens geworden waren und daß der Vogel Roch selbst sie vernichtet habe.


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