"Möchte doch die Welt sein, wie ich sie mir einst in meinem kindlichen Gemüt vorstellte!" Als ich noch ein Junge war, lief ich oft stundenlang, um in irgendeinem Schaufenster farbige Bilderbogen zu betrachten. Dann hüpfte mein Herz vor Freude bei dem bunten Durcheinander. Ich sah lustige Gestalten: Soldaten, Stierkämpfer, rauchende Frösche und lachende Pagoden. Hier zog ein zauberisch kleines Wesen, im Gefieder einer blauen Schwalbe sitzend, durch eine grüne Landschaft, - dort pustete ein langer Eisenbahnzug durch einen Tunnel; - aber ein dicker, in goldbordürter Uniform steckender Kapitän, der breitspurig auf seinem fröhlich bewimpelten Dreimaster stand, hatte es mir besonders angetan. Er nahm mich mit. Sein Schiff entführte mich weit über ein blaues Meer in eine fremdländische Welt. - Eine laue Salzwasserbrise. untermischt mit leichtem Teergeruch, zog über mein Gesicht. Die See rauschte. Der Kapitän stand neben mir auf den Schiffsplanken; sein Gesicht war rotgebräunt wie Zedernholz. Wir kamen an weißleuchtenden Inseln vorbei mit wehenden Palmen, sahen Affen Johannisbrot knabbern, Neger mit goldenen Nasen- und Ohrringen, schreiende Papageien und blinzelnde Krokodile. An einer dieser vielen Inseln stiegen wir aus. Das war wirklich zum Tollwerden schön! Wunderliche Schmetterlinge mit metallischen Flügeln flatterten, smaragdene Eidechsen lagen wie Perlenschnüre in bunter Blumenpracht, Paradiesvögel und samtene Kolibris in unglaublichen Farben und groteskem Federschmuck schwebten über uns. Wir zogen durch einen Urwald, aus dessen Lianen feurigrote Orchideen leuchteten. - Mein Freund, der Kapitän, war hier bekannt. Ein eigenartiges Volk von kleinen Käuzen, die Köpfe hatten wie Salamander, nahm uns in Empfang. Diese führten uns unter hängende Baumwurzeln; dann ging es durch dunkle unterirdische Gänge bis zu den verborgensten Gebeimnissen der Erde. Hier im Innersten des Erdreichs sahen wir in unbestimmtem Licht die gewaltigen Bauten versunkener Städte, die einst unter strahlender Sonne von mächtigen Königen beherrscht wurden. - Als wir wieder emporstiegen, war es klare Nacht. Der Kapitän gab mir sein Fernrohr in die Hand, richtete es zu den Sternen und sagte: "Schau hindurch, die Welt ist noch schöner, als du sie dir träumen läßt!" Beim Anblick der Gestirne in ihrer Allmacht war es mir, als zöge es mich mächtig hinauf. Schnell sprangen wir auf unser Schiff ich durfte ans Steuerrad; und nun lenkte ich den Dreimaster aus dem Wasser heraus in das nächtliche Luftmeer. - Warum sollten die vom Winde hoch geblähten Segel das Schiff nicht auch in die Luft hineintragen? Immer höher ging es, am Monde vorbei, die glitzernde Milchstraße entlang durch die unzähligen Wunder des Weltalls. Mein Kapitän, der alte Salzbär, war mit mir zufrieden. - Eine Ohrfeige brachte mich jedesmal aus dem Banne einer solchen Reise zurück in die graue, enge Welt der Wirklichkeit, zurück zu den kleinen Sorgen der täglichen Schularbeit! 2 mal 2 = 4. Nicht mehr und nicht weniger. Paß auf, daß deine Gedanken niemaIs über das gegebene Maß hinausgehen! Und künftighin wird es so bleiben müssen: 2 mal 2 = 4. Das Leben wird zu einem Rechenexempel, der Mensch zu einer Rechenmaschine! - Immer mehr vergaß ich das Märchen von der schönen Welt. - Heute sind es nicht mehr die kleinen Sorgen der Schularbeit, heute sind es die großen Sorgen des täglichen Lebens. - Eine innere Sehnsucht brennt in uns! Nach was? Wir wissen es nicht; wir haben längst vergessen, daß wir ein kindliches Gemüt haben. Es wird Zeit, daß wir uns darauf besinnen. - Das Leben ohne Phantasie ist kein wahres Leben; es ist kalt und nüchtern. Allein die Phantasie kann uns herausheben aus dem grauen Alltag, aus dem maschinenmäßigen Einerlei in eine ungebundene und befreiende Sphäre, in eine farbenprächtig freudige Welt, in eine Welt voll Humor und märchenhaft schöner Wunderdinge. Es heißt: Den Verstand spazieren führen, auf Erholung schicken, um in der berauschenden Sorgenlosigkeit des Unwirklichen neue und belebende Kraft zu finden für unsere Arbeit und für das immer mehr sich auswirkende, in seiner Bedeutung immer wichtiger werdende Rechenexempel: 2 mal 2 = 4. - - - Ausspannen! - Es können ist eine Kunst. Schlagt dieses Buch auf - und ihr könnt es!!
STEFAN MART, JANUAR 1932